Klaus Doderer

Prof. em., Dr. phil.
geboren am 20. Januar 1925 in Biebrich, gestorben am 16. Juni 2023 in Darmstadt
Germanist, Literaturwissenschaftler und Jugendliteraturforscher. Gründer und langjähriger Leiter des Instituts für Jugendbuchforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Professor, Autor, Herausgeber, Publizist.

Dr. Hannelore Daubert
veröffentlicht am 25.04.2021, aktualisiert am 22./26.06.2023 (Todesdatum, Onlinequellen zum Tod)

 

1 Biogramm

Klaus Doderer (Foto: Privat)

Klaus Doderer (Foto: Privat)

Klaus Doderer wurde am 20. Januar 1925 in Wiesbaden geboren. Sein Vater war der Schriftsteller und Journalist Otto Doderer (1892–1962). Doderer beschreibt sein Elternhaus als liberal und weltoffen, schon als Kind faszinierte ihn die Welt der Bücher, die ihm durch seine vorlesefreudige Mutter eröffnet wurde. Er besuchte das Humanistische Gymnasium in Wiesbaden. Nach dem Kriegsdienst studierte er von 1945 bis 1952 Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte in Marburg, wo er 1952 mit der Dissertation Die Kurzgeschichte in Deutschland promovierte. Ein pädagogisches, sprach- und literaturdidaktisches Zweitstudium am Pädagogischen Institut Darmstadt schloss sich an. Nach 1953 war er als Lehrer, Lektor (Universität Birmingham/England) und als Assistent tätig, bevor er 1959 Dozent für Deutsch am Pädagogischen Institut Darmstadt wurde. 1963 erhielt Doderer einen Ruf als Professor an die Universität Frankfurt am Main, wo er im gleichen Jahr das Institut für Jugendbuchforschung gründete und bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1990 leitete. In den nachfolgenden Jahren setzte sich Doderer unermüdlich und mit großem Erfolg für den weiteren Ausbau des Instituts und für die Etablierung der Kinder und Jugendliteratur (KJL) als wichtigen Gegenstand von Forschung und Lehre ein. Dabei legte er stets Wert darauf, die KJL- Forschung auch in einen internationalen Zusammenhang zu stellen. Er war und ist der festen Überzeugung, dass man die Jugendliteratur und die Jugendkultur aus internationaler Perspektive betrachten muss, schließlich seien die zeitgenössischen Bücher ebenso wie die Klassiker in vielen Fällen Übernahmen aus anderen Sprachen und Kulturen. Wie die von ihm verehrte Jella Lepmann, die nach ihrer Rückkehr aus der Emigration nach dem Zweiten Weltkrieg die Internationale Jugendbibliothek in München sowie Das Internationale Kuratorium für das Jugendbuch (IBBY) gründete, wollte auch Doderer sich für eine „Weltliteratur der Jugend“ einsetzen, um über alle Grenzen hinweg eine bessere internationale Verständigung zu erreichen. Dieses Anliegen teilte auch Erich Kästner, mit dem er über viele Jahre freundschaftlich verbunden war.

Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1990 war und ist Doderer weiterhin als Autor und gefragter Referent und Berater tätig. Er nahm eine Gastprofessur an der New South Wales University in Sidney/Australien an und begab sich reisend auf literarische Spurensuche zu den Schauplätzen der von ihm verehrten Autoren, wie beispielsweise zum Mississippi auf den Spuren von Mark Twain. Nach wie vor publiziert er Bücher sowie Aufsätze und Essays in den unterschiedlichsten Medien und zeigt sich zufrieden darüber, dass er dazu beitragen konnte, „die Kinder- und Jugendliteratur aus dem pädagogischen Ghetto zu befreien“ (Doderer 2014, S. 155).

Klaus Doderer ist verwitwet und Vater von drei erwachsenen Töchtern. Er starb am 16. Juni 2023 in Darmstadt.

 

2 Berufsbiografie

2.1 Das Institut für Jugendbuchforschung

Mit der Gründung des Instituts für Jugendbuchforschung, des weltweit ersten wissenschaftlichen Spezialinstituts zur Erforschung der KJL, leistete Klaus Doderer Pionierarbeit. Längst ist das von ihm aufgebaute Institut mit seiner umfassenden Ausrichtung eine international hoch anerkannte Einrichtung, und schon lange erfährt sein Forschungsgegenstand die Bedeutung, die ihm zusteht.

Dieses Institut hatte von Anfang an nicht nur das Ziel, im Geiste der ‚Frankfurter Schule‘ die gesellschaftliche Bedeutung und Funktion von Lesestoffen für die Jugend ideologiekritisch zu hinterfragen, sondern selbstverständlich auch über die nationalen Grenzen zu hinaus zu blicken.

So beschreibt Doderer in seiner Eröffnungsrede beim Kongress der Internationalen Forschungsgesellschaft am 8. August 2009 in Frankfurt seine damalige Zielsetzung (Doderer 2009b).

Die Bedingungen dafür waren zur Zeit der Institutsgründung jedoch noch schwierig: die KJL hatte in der akademischen Forschung und Lehre bis dahin keinen Platz und entsprechend gering fiel die Wertschätzung des Instituts innerhalb der Universität in den Anfangsjahren auch aus. Das änderte sich durch Klaus Doderers Wirken am Institut sehr schnell. Er setzte sich dafür ein, Kinder und Jugendliche und ihre Lektüre nicht nur durch eine pädagogische Brille zu betrachten, sondern sie ernst zu nehmen und ihnen eine literarästhetisch ansprechende Literatur anzubieten. Die 1960er-Jahre waren eine Blütezeit der KJL, die viele Klassiker hervorbrachte. In den 70er-Jahren dann entstand eine emanzipatorische, realistische Kinderliteratur, deren Autorinnen und Autoren der antiautoritären 68er-Bewegung nahestanden, auch Doderer sympathisierte mit ihr. Viele Autorinnen und Autoren kannte Doderer persönlich und war mit ihnen befreundet, dazu gehörten Astrid Lindgren, Erich Kästner, Christine Nöstlinger und Peter Härtling. Eine besonders enge Beziehung hatte er zu James Krüss, mit dem ihn, wie er sagt, ähnliche biographische Erfahrungen verbanden.

So kamen die Studierenden am Institut von Anfang an in den Genuss, bekannte Autorinnen und Autoren persönlich kennenzulernen und an interessanten Diskussionen mit ihnen teilzunehmen. Klaus Doderer lud sie alle zu Gastvorträgen und Lesungen an das Institut ein, so z. B. James Krüss (1963), Erich Kästner (1965), Otfried Preußler (1965), Wolfdietrich Schnurre (1967), Heinrich Maria Denneborg (1969), Astrid Lindgren (1971), Christine Nöstlinger (1972), Liselotte Welskopf-Henrich (Berlin/DDR 1973), Peter Härtling (1974), Janosch (1975).

2.2 Internationale Zusammenarbeit

Von Anfang an legte Doderer großen Wert auf internationale Vernetzung und Zusammenarbeit. So initiierte er bereits im Oktober 1969 ein Frankfurter Kolloquium zur Jugendliteratur, Jugendliteraturforschung international – Schwerpunkte und Richtungen, mit Teilnehmern aus der BRD, der DDR, Jugoslawien, Österreich, der Schweiz, Spanien und der CSSR. Schon damals lagen ihm die Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen hinter dem „eisernen Vorhang“ am Herzen, die er auch in den Folgejahren systematisch pflegte. Dieses Kolloquium diente der Vorbereitung zur Gründung einer internationalen Forschungsgesellschaft. Als sich 1970 auf diese Initiative des Instituts die Internationale Forschungsgesellschaft für Kinder- und Jugendliteratur (International Research Society for Children’s Literature – IRSCL) etablierte, wurde er zu ihrem ersten Präsidenten gewählt und ist bis zum heutigen Tag aktives Mitglied der Gesellschaft. Die IRSCL, deren Gründungsmitglieder am Anfang aus europäischen Ländern kamen, entwickelte sich sehr schnell über diese Grenzen hinaus und umfasste bald Mitglieder aus allen Kontinenten.

Mehrere Jahre vertrat Doderer auch die damalige Bundesrepublik Deutschland bei IBBY, dem International Board on Books for Young People, einer weltweit tätigen Dachorganisation zur Förderung der KJL und des Lesens. Dort war er Mitglied im Vorstand und in der Jury für den Hans Christian Andersen Preis, dem wichtigsten internationalen Preis zur Auszeichnung von Autorinnen/Autoren und Illustratorinnen/Illustratoren.

Sein internationales Engagement zeigte sich auch in vielen Kooperationsprojekten mit Kollegen im Ausland sowie in der Ausrichtung von internationalen Tagungen und Forschungsprojekten. So hatte beispielsweise der renommierte Märchenforscher Prof. Dr. Jack Zipes (Milwaukee/USA) von 1981 bis 1982 eine Gastprofessur am Institut. Diese Zusammenarbeit setzte sich fort in der deutsch-amerikanischen Kinderbuchtagung Fantasy and Social Values in Children’s Books 1984 am Brooklyn College, New York, und fand 1985 eine erneute Fortsetzung in der deutsch-amerikanischen Tagung Neue Helden in der Kinder- und Jugendliteratur, die 1985 in Oberreifenberg im Taunus stattfand.

2.3 Forschungsprojekte

Doderer initiierte und etablierte wichtige Forschungsprojekte, die ihren Niederschlag in bedeutenden Publikationen fanden. Sein wohl wichtigstes und umfangreichstes Projekt war das Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur, dessen vier Bände in den Jahren 1970 bis 1982 entstanden und im Beltz Verlag erschienen sind. Ab 1975 wurde das Projekt durch die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG) gefördert.

Auch hier leistete Doderer Pionierarbeit, denn bis dahin gab es kein Werk, welches das zerstreut liegende Wissen zum Forschungsgegenstand der KJL, ihrer Geschichte, Produktion, Distribution und Rezeption zusammengetragen und jedermann zugänglich gemacht hat. Mit insgesamt zwölf wechselnden Redakteuren und mehr als 250 Fachleuten aus 33 Ländern entstand ein Standardwerk: Band A-H, 597 Seiten (1975), Band I-O, 625 Seiten (1977), Band P-Z, 863 Seiten (1979), Ergänzungs- und Registerband, 705 Seiten (1982). Das Lexikon erfuhr große Zustimmung im In- und Ausland und wurde im Jahr 1995 unverändert als Reprint neu aufgelegt.

Weiterer Forschungsprojekte waren:

  • 1979–1984: Katalogisierung von Altbeständen der KJL (gefördert durch die DFG)
  • 1983–1988: KJL nach 1945 (gefördert durch die Stiftung Volkswagenwerk)
  • 1983–1988: Comics für junge Leser in der BRD seit 1945 (gefördert durch die DFG)

2.4 Kinderbuchsammlungen

Auch bedeutende und umfangreiche Kinderbuchsammlungen konnte Klaus Doderer während seiner Amtszeit für das Institut erwerben:

  • 1966: Kinderbuchsammlung Arthur Rümanns (ca. 800 Bände)
  • 1979: Comic Sammlung Peter Orban (ca. 4000 Einheiten)
  • 1983: Kinderbuchsammlung Karl Hobrecker (ca. 400 Bände)
  • 1985: Kinderbuchsammlung Walter Benjamins (ca. 200 Bände)

2.5 Weitere Funktionen und Auszeichnungen

Klaus Doderer war ein gefragter Referent im In- und Ausland und kooperierte mit den maßgeblichen Institutionen der Kinder- und Jugendliteratur. Seine Vortragsreisen führten ihn zu Partnerinstituten wie dem Schwedischen Kinderbuchinstitut in Stockholm oder dem Pädagogischen Institut in Osaka/Japan. In Deutschland kooperierte er mit dem Arbeitskreis für Jugendliteratur und der Internationalen Jugendbibliothek in München. Von 1996 bis 2000 war er Vorsitzender der dort ansässigen Erich Kästner Gesellschaft. Auch das Kinder- und Jugendtheater spielte bei ihm in Forschung und Lehre und in seinen Publikationen eine wichtige Rolle.

Er erhielt mehrfach bedeutende Auszeichnungen:

  • 1983 Friedrich Bödecker Preis
  • 1987 Internationaler Brüder Grimm Preis des Internationalen Instituts für Kinderliteratur in Osaka/Japan für seine Forschungen auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur
  • 2002 Volkacher Taler der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur in Volkach
  • 2004 Bundesverdienstkreuz am Bande
  • 2009 Ehrenmitgliedschaft im Arbeitskreis für Jugendliteratur (AKJ)

 

Literaturverzeichnis

Publikationen (Monografien und Herausgaben, chronologisch)

  • Die Kurzgeschichte in Deutschland (Diss.), 1953, 6. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980.
  • Wege in die Welt der Sprache. Stuttgart: Klett 1960, 3. Aufl. 1969.
  • Das Sachbuch als literaturpädagogisches Problem. Frankfurt am Main: Diesterweg 1962.
  • (Hrsg.): Die Reimschmiede. So dichten Kinder. München: Ehrenwirth 1966.
  • Klassische Kinder- und Jugendbücher. Kritische Betrachtungen. Weinheim, Basel: Beltz 1969, 3. Aufl. 1975.
  • Fabeln – Formen, Figuren, Lehren. Zürich: Atlantis 1970, TB München: dtv 1977.
  • Die moderne Schulbibliothek. Bestandsaufnahme und Modell. Hamburg: Verlag für Buchmarktforschung 1970.
  • (Hrsg.): Bilderbuch und Fibel. Eine kritische Analyse der Literatur für Leseanfänger. Weinheim. Basel: Beltz 1972.
  • und Müller, Helmut (Hrsg.): Das Bilderbuch. Geschichte und Entwicklung. Weinheim, Basel: Beltz 1973, 2. Aufl. 1975.
  • (Hrsg.): Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur in 4 Bänden. Basel: Beltz 1975–1982, Reprint 1995.
  • (Hrsg.): Ästhetik der Kinderliteratur. Plädoyers für ein poetisches Bewußtsein. Weinheim, Basel: Beltz 1981.
  • (Hrsg.): Über Märchen für Kinder von heute. Essays zu ihrem Wandel und ihrer Funktion. Weinheim. Basel: Beltz 1983.
  • Literatur und Schule. Essays über ein schwieriges Verhältnis. Weinheim, Basel: Beltz 1983.
  • (Hrsg.): Neue Helden in der Kinder- und Jugendliteratur. Ergebnisse einer Tagung. Weinheim, München: Juventa 1986.
  • (Hrsg.): Walter Benjamin und die Kinderliteratur. Aspekte der Kinderkultur in den zwanziger Jahren. Mit dem Katalog der Kinderbuchsammlung. Weinheim, München: Juventa 1988.
  • und Riedel, Cornelia: Der deutsche Jugendliteraturpreis. Eine Wirkungsanalyse. Weinheim. München: Juventa 1988.
  • (Hrsg.): Zwischen Trümmern und Wohlstand. Literatur der Jugend 1945–1960. Weinheim. Basel: Beltz 1988. – Unveränderte 2. Aufl. unter dem Titel: Jugendliteratur zwischen Trümmern und Wohlstand 1945–1960. Ein Handbuch. Weinheim, Basel: Beltz 1993.
  • Literarische Jugendkultur. Kulturelle und gesellschaftliche Aspekte der Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland. Weinheim, München: Juventa 1992.
  • mit Uhlig, K.: Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters zwischen 1945 und 1970. Konzepte, Entwicklungen, Materialien. Frankfurt am Main: Lang 1995.
  • Reisen in ein erdachtes Land. Literarische Spurensuche vor Ort. Essays. München: iudicium 1998.
  • Die doppelte Wirklichkeit. Meine Pfade in die Literatur. Darmstadt: Privatdruck 2000.
  • Wie man Worte versetzt. Für Hans-Joachim Gelberg. Basel: Beltz 2000.
  • Erich Kästner – Lebensphasen, politisches Engagement, literarisches Wirken. Weinheim, München: Juventa 2002.
  • Die Entdeckung der Kinder- und Jugendliteraturforschung. Autobiographische Reflexionen. Weinheim, Basel: Beltz 2005.
  • James Krüss – Insulaner und Weltbürger. Hamburg: Carlsen 2009.
  • Begegnung mit der Welt der Poesie. Autobiografische Notizen. Niederfrohna: Mironde 2014.

Darüber hinaus hat Klaus Doderer unzählige Beiträge (Essays, Lexikonartikel, Rezensionen, Betrachtungen, autobiografische Reflexionen etc.) in Sammelwerken und Lexika sowie in Fachzeitschriften, in der Presse und im Rundfunk publiziert.

Internetquellen

  • Klaus Doderer: Commemory Speech. IRSCL-Congress „Children’s Literature and Cultural Diversity“, Frankfurt am Main, 8. August 2009, Opening Ceremony. In: irscl.com, 2009b [letzter Aufruf: 01.02.2021].
  • Mark vom Hofe: Erlebte Geschichte mit Klaus Doderer, 06.10.2013. In: wdr.de, 2013 [letzter Aufruf: 22.06.2023].
  • Wolfgang Schneider: Zum Tod von Klaus Doderer, Nestor der Kinderliteraturforschung. In: fr.de, 19.06.2023 [letzter Aufruf: 22.06.2023].
  • Tilman Spreckelsen: Kinderbücher an der Uni – Eine Literatur aus eigenem Recht. In FAZ.net, 20.06.2023 [letzter Aufruf: 26.06.2023].
  • Gudrun Rothaug: Literaturwissenschaftler Klaus Doderer gestorben, 21.06.2023. In: hessenschau.de, 2023 [letzter Aufruf: 22.06.2023].
  • Bernd Dolle-Weinkauff: Nachruf Prof. em. Klaus Doderer, 1963–1990 Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung an der Goethe-Universität Frankfurt/M. In: Sondernewsletter des Instituts für Jugendbuchforschung, 23.06.2023 [letzter Aufruf: 26.06.2023].